Ticino wine: it’s many faces

A guided tour in expert company

Vor über hundert Jahren prägte der französische Dichter Victor Hugo ein geflügeltes Wort: „Gott hat nur Wasser geschaffen, aber der Mensch machte den Wein.“ Der geistreiche Ausspruch hat seither noch an Aktualität gewonnen, denn weit mehr als ein Naturprodukt ist Wein heute ein Werk von Menschenhand.

Obwohl im Tessin seit über 2000 Jahren Wein gekeltert wird, können die Winzer nicht auf eine rühmliche Vergangenheit zurückblicken. Die vorzügliche Qualität und die beeindruckende Vielfalt des jetzigen Angebots verdanken wir insbesondere den letzten drei Generationen. Sie ergaben sich nicht dem Schicksal, Gebräue nach alter Väter Sitte zu erzeugen, sondern wagten den Quantensprung in die Riege der weltbesten Gewächse. Da niemand wusste, wie es um das effektive Potenzial des Tessins bestellt war, gingen sie mit ihrem Ansinnen ein erhebliches Risiko ein. Mut, Erfindergeist und Ausdauer sind unverzichtbar, damit ein kühnes Vorhaben gelingen kann, doch darüber hinaus ist stets ein Quäntchen Glück vonnöten. Den Tessinern ist eine geradezu geballte Ladung Glück beschieden: Die Zone bietet derart breite Möglichkeiten, dass die Winzer ihre Kreativität ungehindert entfalten können. Jede Inspiration hat Aussicht auf Erfolg, und solange die Offenheit besteht, nichts unversucht zu lassen, wird das Machbare wohl noch länger nicht an Grenzen stoßen. Weinbau ist ein Universum für sich. Archaische Anschauungen vermengen sich darin mit zeitgenössischem Realismus und futuristischen Fantasien zu einem undurchdringlichen Mysterium. Hartnäckig werden Klischees verbreitet, von Rebbergen, von manueller Pfleglichkeit, von Naturnähe und Terroir, von Tradition, Authentizität, Kunst, und selbst Philosophie wird als Argument bemüht. Zuweilen sieht die Wirklichkeit doch etwas anders aus: Viele Rebflächen erstrecken sich in topfebenem Land und werden maschinell bearbeitet; Millionen von Weinstöcken stehen Spalier in Zonen, wo früher Schafe grasten; manchenorts stellt sich Tradition als Legende und Philosophie als Floskel heraus. Je eklatanter die Realität von bildlichen Vorstellungen abweicht und je mehr die Weintypologien standardisiert werden, umso salbungsvolleres Marketing ist gefragt. Es ist keine Beschönigung zu sagen, dass die Tessiner Winzer eine gesunde Bodenhaftung bewahrt haben. Sie sind eher wortkarg und konzentrieren sich darauf, eigenständige Weine in die Flasche zu bringen. Das vielgepriesene mediterrane Klima der Südschweiz hat reichlich Macken, mit denen umzugehen leichter gesagt als getan ist. Daher war guter Wein in alten Zeiten meist eine Folge günstiger Umstände. Die Kenntnisse waren so gering, dass es manchem „Kellermeister“ gelang, sogar aus süßen Trauben sauren Most zu keltern. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Wein erlitt seine Qualität. Dominiert wurde die Branche von größeren Häusern, die sich mit dem Import italienischer Provenienzen goldene Nasen verdienten und bei der eigenen Produktion keinen Ehrgeiz zeigten. In den Achtzigerjahren brach dann plötzlich eine hektische Betriebsamkeit aus. Statt gegebene Faktoren zu erdulden, wollten die Produzenten das Profil ihrer Weine fortan aktiv bestimmen. Sie schlugen verschiedene Wege ein, doch unweigerlich lernten alle die Versuchungen der technologischen Manipulation kennen – und entschieden sich dagegen. Dieser Verzicht ist ein klares Bekenntnis und eine weitere großartige Leistung, mit der die Tessiner Winzer ihre Besonnenheit eindrücklich unter Beweis stellen. Auch wenn das Erreichte eine gemeinsame Errungenschaft darstellt, steckt in jedem Kopf eine eigene Vision. So ist das Streben nach Qualität und Aussagekraft heute individueller geworden. Wie die folgenden sechs Kurzporträts beispielhaft zeigen, widerspiegelt sich die Tessiner Weinwelt in vielen spannenden Gesichtern.

Feliciano Gialdi

The battle against mediocrity

Er hätte ein beschauliches Dasein als Weinhändler führen können, stattdessen stürzte er sich in ein heikles Unterfangen: Feliciano Gialdi wollte den kantigen Charakter des Nordtessins in grandiose Weine übersetzen. Dazu musste er die verkrustete Mentalität in der Region aufbrechen und die Talbewohner überzeugen, dass der Weinbau ihnen eine Chance bot. Was er mit Herzblut und Disziplin umgesetzt hat, verdient Hochachtung. Die Weine sind in jeder Kategorie hervorragend und belegen überdies, dass hohe Qualität und große Quantität sich keineswegs ausschließen. Nur das Beste kann gut genug sein, ist das Leitmotiv und zugleich das Versprechen, das Feliciano Gialdi mit jeder Flasche einlöst.

Ralph Theiler

Earthy minimalism

Verstreute Reblagen, ein einfacher Keller im ehemaligen Postauto-Depot von Cademario und eine schlichte Denkweise klingen nicht nach optimalen Voraussetzungen, um erlesene Weine zu produzieren. Doch genau in diesem unspektakulären Rahmen gelingen Ralph Theiler erstklassige Weine voll Charakter und mit viel Finesse. Sein Konzept leuchtet ein: Je besser die Trauben, desto weniger die Eingriffe im Keller. Daher sieht er sich eher in der Rolle eines aufmerksamen Beschützers. Wein kann man nicht „machen“, man kann ihn nur zum Vorschein bringen.

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Ettore Biraghi

Perfecting facets

Auf der Tenuta Luigina in Stabio feilt der Önologe Ettore Biraghi Tag und Nacht an Weinen von vielschichtiger Ausgewogenheit. Der Teufel steckt im Detail, also muss von der Rebarbeit bis zur Abfüllung jede Maßnahme nach einem Plan erfolgen. Die Herausforderung lautet, Facetten zu erkennen und herauszuarbeiten, damit keine zu kurz kommt oder verloren geht. Allerdings lässt sich diese akribische Arbeit in großem Maßstab nicht leisten. Das kleine Gut ist vielmehr ein Atelier der handwerklichen Exzellenz, in dem Ettore Biraghi rare Perlen fertigt.

Angelo Delea

Permanent fireworks

Eine der umtriebigsten Persönlichkeiten der Tessiner Weinszene ist zweifellos Angelo Delea. Kein Tag vergeht, ohne dass er nicht auf eine originelle Idee verfiele. Mit Passion und Initiative hat er seinen modernen Betrieb in Losone aufgebaut und ein hochklassiges Sortiment von stattlichem Umfang geschaffen. Ein gutes Händchen hat er nicht nur für Weine gezeigt, sondern auch für Grappa und Balsamico-Essig. Trotz aller Erfolge stellt er sich immer wieder der Frage, ob da oder dort nicht noch eine Winzigkeit mehr machbar gewesen wäre. Nichts vermag seinen schöpferischen Impuls zu bremsen, er hat noch manches Projekt im Sinn und bedauert bisweilen, dass ein Tag bloß 24 Stunden zählt. Neuerdings soll Angelo Delea des Öfteren lange Stunden im Olivenhain seines Weingutes l‘Amorosa verbringen; man darf gespannt sein …

Werner Stucky

Provocation through creativity

Zu den wichtigen Erneuerern zählte Werner Stucky, der anfangs der Achtzigerjahre ins Tessin kam. Er baute als erster einen Merlot im Barrique aus und kelterte den ersten Assemblage-Wein nach Bordeaux-Art. Streitbar führte er der Weingilde vor Augen, dass ihre dürftigen Rebensäfte selbstverschuldet waren und dass die rigiden Regeln die Innovation behinderten. Inzwischen ist es ruhig geworden um den Kämpfer, der stets seiner Linie treu geblieben ist, Spitzenweine im Kleinen zu erzeugen. Die limitierte Produktion geht meist an Stammkunden. Wer einen Stucky-Wein auf einer Karte entdeckt, sollte eine Flasche bestellen.

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Terreni alla Maggia

Diversity as a source of inspiration

Mit 150 ha Anbaufläche ist Terreni alla Maggia in der Tessiner Landwirtschaft eine enorme Realität. Ein Betrieb dieser Grössenordnung macht die Diversifizierung des Sortiments unverzichtbar: Reis, Polenta, Poulet, Honig und Whisky sind nur ein paar Beispiele von über 100 Produkten. Das Erfolgsrezept besteht darin, immer wieder Marktnischen ausfindig zu machen und Spezialitäten zu erzeugen. Beim Wein zeigt sich dies im besonderen Sortenspiegel: Schon vor Jahrzehnten setzte man auf den Kerner, und manche Winzer sind dem Beispiel inzwischen gefolgt; oder man pflanzte die einheimische Sorte Bondola an, der niemand viel zutraute, und kelterte daraus köstliche Weine für gesellige Augenblicke. Natürlich bleibt die Königssorte Merlot dominant: zu den bisherigen neun Variationen kam zuletzt ein Passito hinzu – ein weiteres Nischenprodukt für verwöhnte Gaumen.