Interview with Marco Solari

“In a magic triangle is where I would place Ascona: luxuriating between the cafes of the old Borgo, the Brissago Islands and the heights of Monte Verità, where the spirit of Mitteleuropa lives on”. 

Ascona liegt für mich in jenem magischen Dreieck zwischen den Cafés des Dorfes, den Brissago-Inseln und der Anhöhe des Monte Verità: hier findet man den ganzen Geist Mitteleuropas.

Marco Solari, Präsident des Filmfestivals von Locarno, erklärt seine tiefe Verbundenheit mit dem Ort Ascona und seinen Einwohnern, „entschlossenen Menschen, die, wenn sie sich in eine Initiative einbringen, diese aus keinem Grund fallen lassen“. Jahrgang 1944, mit langer Erfahrung als Topmanager, die ihn vom Tessiner Tourismusverband zur großen Ringier-Verlagsgruppe führte, über die Organisation der Feierlichkeiten zum siebenhundertjährigen Bestehen der Eidgenossenschaft und die Leitung des Migros-Genossenschafts- Bundes, steht Solari seit zwanzig Jahren an der Spitze eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt. Ein Engagement, das ihm ständig neue Energie zu geben scheint.

Wie haben Sie den Einstieg in eine Welt wie die des Festivals erlebt?

In vielerlei Hinsicht war das keine Neuheit: Es handelt sich um eine Rolle, die es erfordert, kulturelle Sensibilität und Organisationsfähigkeit, die Welt der Kunst und die Welt der Kommunikation zusammenzuhalten, natürlich mit Blick auf die touristischen Belange. In gewisser Weise war es für mich auch eine Art von Heimkehr.

 

Viele Leser werden sich fragen, was die spannendsten Aspekte ihres Berufs sind.

Während der Tage der Veranstaltung fühle ich mich ein wenig wie das verrückte weiße Kaninchen bei Alice im Wunderland: Ich muss hinter diesem und jenem herlaufen, vom internationalen Gast zu den wichtigsten Partnern. Paradoxerweise bleibt wenig Zeit, um die Filme im Programm zu sehen: Es sind die Menschen, die mir die bewegendsten Erinnerungen beschert haben.

 

Nennen Sie uns doch einige Beispiele.

Davon gibt es viele. Der Schauspieler Michel Piccoli, eine Person, der es unmöglich ist, auch nur einen einzigen Satz zu sagen, der abgedroschen oder trivial erscheinen könnte. Claudia Cardinale, eine Frau, deren Schönheit von innen kommt und die fähig ist, sich mit der Intelligenz eines Blicks und der Lebendigkeit eines Lächelns auszudrücken. Oder dann auch der Musiker und Schauspieler Harry Belafonte: Ich erinnere mich gerne an seine Rede über die Verantwortung des Künstlers, über seine Verpflichtung, immer das zu sagen, was er denkt; am Ende dankte ihm die Piazza mit tosendem Applaus.

Fahren Sie fort …

Ich erinnere mich an die Ergriffenheit auf der Bühne von Oscar-Preisträger Adrien Brody, von Susan Sarandon, von Andy Garcia, von Charlotte Rampling … Unvergesslich der Nobelpreisträger Dario Fo, der den Platz mit seinen theatralischen Fähigkeiten hypnotisiert, und der deutsche Schauspieler Armin Mueller-Stahl, der sein Gedicht ‘Der Gaukler’ vorträgt.

 

Können Sie in ein paar Sätzen den Kurs Ihrer Direktion beschreiben?

Um die Veranstaltung aus einem schwierigen Moment herauszuholen, habe ich von Anfang an die Unterstützung des Kantons erbeten und erhalten
sowie auch die Mitarbeit von Privaten gesucht, um die Ressourcen zu erweitern: Dies führte zu einer vertikalen Entwicklung, mit einem von 4 auf 13 Millionen Franken pro Ausgabe erhöhten Budget und fast 200 Partnern. Dieses Wachstum hat es wiederum ermöglicht, seine horizontale Entwicklung in Bezug auf Angebot und Qualität zu fördern: neue Sektionen sind entstanden, wir haben ein immer breiteres und dichteres Netz von Talenten in allen Bereichen aufgebaut, wir haben in die Ausbildung und in Kontakte mit dem Ausland investiert.

 

So sehr, dass sich das Festival heute auf dem Niveau von Cannes, Venedig und Berlin bewegt.

Mit einem eigenen Spezifikum: nämlich der Erhaltung eines jungen und unabhängigen Festivals, das mehr auf Inhalte als auf Glamour achtet, wenn nicht sogar des freundlichsten und intelligentesten Festivals. Ein “Ort”, an dem die Künstler nicht wegen des roten Teppichs oder des Badens in der Menge auftauchen, sondern wegen des Rahmens, in dem sie ihre Botschaft anbringen können und angehört werden, wie in einer Art erweitertem, aber niemals unpersönlichem Dialog: mit dem Publikum, Journalisten und Kritikern. Ein Dialog, der über die Nische der Kinofans hinausgeht und alle Filmliebhaber einbezieht. Und dies, obgleich es mit Veranstaltungen wie der Berlinale und Venedig konkurrieren muss, die zwangsläufig viel größere Dimensionen und Mittel haben.

 

Wie hat sich die Welt der Filmfestivals in letzten zwanzig Jahren verändert?

Früher diente ein Festival vor allem dazu, die Neuheiten der Saison zu lancieren. Heute, angesichts des veränderten Vertriebs, dient es eher der Entdeckung und Wiederentdeckung von Filmen, die sonst Gefahr laufen würden, nicht in die Kinos zu kommen. Die Herausforderung besteht darin, sich dem Wandel zu stellen und gleichzeitig dem Besten der Produktion Geltung zu verschaffen: Ich sage gerne, dass ein Festival nicht nach seinen drei schönsten Filmen, sondern nach seinen fünf hässlichsten beurteilt wird.

 

Und dann gibt es noch die Digitalisierung.

Genau, und sie trifft uns nicht unvorbereitet. In den letzten Jahren haben wir eine zunehmend intensivere Osmose zwischen der Piazza und der digitalen Dimension geschaffen. Zum Beispiel mit den brandneuen Locarno Shorts Weeks: eine Initiative, die im Gegensatz zu den normalen Streaming-Plattformen ein kunstvolles Angebot an Kurzfilmen anbietet. Jeder kann diese im Februar zu Hause ansehen, einen Film pro Tag, seine Stimme dafür abgeben und sich so am “Making” des Festivals beteiligen.

Wie tragen Sie zur lokalen Entwicklung bei?

Über die kulturelle Dimension und die Hervorhebung unserer inspirierenden Region hinaus hat das Festival eine bedeutende Auswirkung auf die Stadt. Es verlängert die touristische Saison jedes Jahr im August, indem es aufmerksame und bewusste Besucher anlockt. Wir projizieren die Namen von Orten wie Locarno und Ascona dergestalt in die ganze Welt, dass heute ein in das Festival investierter Franken drei solcher als Rückfluss generiert.

 

Welche Rolle spielt Ascona?

Ascona schafft es, einen einmaligen Charakter zu bewahren, als Treffpunkt lebendig zu bleiben und trotz seiner Traditionen nie aus der Mode zu kommen, sondern sich ständig zu erneuern. Es ist ein Kreuzungspunkt feiner und sensibler Intelligenzen, wie auch der mentale Pfad von Orten wie dem Monte Verita zeigt, für den wir zusammen mit Eros Bergonzoli die Monte Verita-Literaturveranstaltungen ins Leben gerufen haben. Ascona strahlt intellektuelle Vitalität, Wissen und Verwurzelung in der Region aus.

 

Was sind die Herausforderungen für die Zukunft?

Wir wollen uns weiterhin als großes internationales Festival durch die Förderung von Talenten etablieren: nicht nur die der Schauspieler, Regisseure und Drehbuchautoren, sondern auch die der künstlerischen und operativen Leiter, der Mitarbeiter und der Kommunikation. Ich hoffe, meinen Nachfolgern eines Tages ein Festival zu übergeben, das den Keim für eine weitere, blühende Entwicklung in sich trägt und das seine unverwechselbare Mischung aus Intellekt, Vitalität und Stolz, Kraft und Energie, Material und Moral bewahren wird.